Freitag, 13. April 2007

Reisestatistik

Ich liebe Zahlen, also auch hier noch einige und noch etwas mehr, gewissermassen die Sedimente der sich in den letzten Tagen haeufenden sentimentalen Rueckblicke auf die vergangenen Wochen.

50 Tage unterwegs (viel zu wenig...)
45 Naechte in Hotels (hm , doch schoen wieder nach Hause zu kommen)
an 23 verschiedenen Orten
in 10 Bundesstaaten (von 28!)
3 Naechte im Zug
6 weitere Zugfahrten
in 46 Stunden (das ist gerademal eine Fahrt von der Suedspitze Indiens nach Delhi)
stattdessen lieber 4 Inlandsfluege (lieber teuer reisen im billigen Land als umgekehrt, Schatten der Zukunft?)
aber auch 11 Ueberland-Busfahrten
in 37 Stunden (laecherlich wenig fuer einen durchschnittlichen Traveller)
3 Tage im Auto
18 h Fahrt
und dann noch:
2 Bootsfahrten
1 Jeepsafari
1 Elefantenritt
1 Kamelritt
der kuerzeste Aufenthalt: Coimbatore, 9h
der laengste Aufenthalt: Colva Beach, 5 Tage
das guenstigste (vollwertige) Essen: 50 Cent
das teuerste: 8 Euro
der groesste (aber nicht lauteste!) Ort: Mumbai, 18 Millionen
der kleinste (und ruhigste!) Ort: die Ehre teilen sich Colva und Dalhousie (jeweils 10000 Einwohner, also quasi Doerfer)
der hoechste Punkt: namenloser Berg bei Dalhousie, 2700m (jaja, ist nicht so doll im Schatten von Achttausendern)
der niedrigste Punkt: ist zu unkreativ, spare ich mir
der waermste Ort: Delhi eben gerade, 36 Grad
der gefuehlt waermste Ort: Allepey, 32 Grad, >90% Luftfeuchte (wen das zu gefuehlt erscheint, siehe Wikipedia: Humidex)
der kuehlste Ort: Dalhousie, 18Grad
der stressigste Moment: im Stau auf dem Weg zum Flughafen vor dem (zufaellig) rettenden Motorrad-Taxi
der erholsamste Moment: allein am Ufer eine rauschenden Gebirgsbaches 2h von der naechsten Spur der Zivilisation entfernt
der ruhigste Moment: im Jain-Tempel von Ranakpur kurz vor Schliessung
der selbstverlorendste Moment (was man so alles steigern kann...): am Seeufer im Goldenen Tempel von Amritsar
der geniesserischste Moment: Sonnenuntergang im Strandrestaurant in Colva, dazu das erste Bier nach Wochen und King Crabs
der erhabendste Moment: der sich oeffnende Blick aufs Taj Mahal (was sonst?)
der schoenste Moment: Sonnenuntergang am Strand von Allepey am letzten Abend zu dritt
der einsamste Moment: das erste Abendessen allein in Cochi
der gefaehrlichste Moment: 5 Meter quasi senkrechten Abhang herunterrutschen in McLeodGanj (nix da mit Ueberfaellen oder so)
der indischste Moment: jain-kompatibles vegetarisches Essen zu fuenft ohne Besteck in Ooty
der albernste Moment: diese Liste zu erstellen, daher:
der Schluss.
Schoen war's und danke fuer's Mitlesen.

Worauf ich mich schon freue

Muell, der an den dafuer vorgesehenen lokalen Sammelstellen abgelegt wird.

Schwarzbrot mit Wurst und Kaese.

Busfahrplaene.

Wirklich saubere Waesche.

Die Luft nach dem Regen.

Ehrliche Antworten.

Mein Bett.

Die Frau darin.

Was ich nicht vermissen werde

Servicepersonal an Bahnhoefen, Postschaltern oder auch in privaten Laeden, denen die Belange des Kunden voellig egal zu sein scheinen.

Ungenaue oder grundfalsche Auskuenfte von Passanten oder noch aergerlicher, von eigentlich eben fuer diese Auskuenfte kompetenten Servicepersonal, nur um nicht sagen zu muessen "weiss ich nicht".

Die Unsensibilitaet gegenueber akustischen Belaestigungen.

Vordraengeln, Fenster im Bus oeffnen, fremde Taschen umraeumen oder ueber Menschen klettern, ohne die Betroffenen zu fragen, ob sie vielleicht etwas dagegen haben.

Die vielen ungewollten Freundschaften auf der Strasse ("Come her my friend, only looking, which country?, whats your name?")

Toiletten ohne Papier.

Stromausfaelle.

Was ich vermissen werde

Staedte, in denen man innerhalb von fuenf Fussminuten, von 7 bis 23 Uhr Mo-So, alle Waren des taeglichen Bedarfs vorfindet, insbesondere Trinkwasser, Obst und Knabbereien.

Selbiges auch garantiert an jedem Busbahnhof.

Mitmenschen, welche die kleinen und grossen Nerventoeter des Alltags wie Verspaetungen, Staus, nicht verfuegbare Elemente auf Speisekarten, nicht klebende Briefmarken, wild kreuzende Busse und LKWs usw. mit Gemuetsruhe ertragen.

Busse, die halten wenn jemand zu- oder aussteigen will, nicht an komischen mit "H" beschrifteten Schildern

Sich morgens (oder gern auch spaet abends) beim Barbier um die Ecke fuer 30Cent rasieren zu lassen.

Frisch gepresste Fruchtsaefte.

Das indische Essen, ganz allgemein.

Das Preisniveau.

Dachterrassen.

Die Sonne.

Arm und Reich

So, kurz vor Abreise gibts noch einmal eine Post-Kaskade (Einkaeufe groesstenteils erledigt, Mittagszeit in Delhi nur an gut beluefteten Orten ertraeglich). Die folgenden Ausfuehrungen sind nur fuer wirklich Neugierige gedacht. Am ehesten werden wohl diejenigen damit klarkommen, welche schon persoenliche Erfahrungen mit dem mitunter etwas seltsam erscheinenden Argumentationsstil der Oekonomen im allgemeinen und meinen schriftlichen und muendlichen Eroerterungen zu diversen Themen im besonderen gesammelt haben.

In diesem an vielem so reichen und doch materiell so armen Land stellt sich der herumreisende Volkswirt (vielleicht nicht nur der) die Frage, warum denn Indien im Laufe der Jahrhunderte nicht den selben Wohlstand geschaffen hat wie Europa oder nicht zumindest alle Menschen ein sicheres und wuerdiges Ueberleben sichern kann. Gern wird auf die koloniale Vergangenheit verwiesen (schamlose Ausbeutung hinterliess bleibende Wunden?) oder klimatische Argumente erdacht (zu heiss zum harten Arbeiten?), was aber wohl zu kurz greift.

Ausgehend von meinen Beobachtungen will ich, ohne Anspruch auf Exaktheit und Vollstaendigkeit, auf vier fuer die Wohlstandsunterschiede zwischen der westlichen Welt und Indien verantwortliche Gruende eingehen: Bevoelkerung, Bildung, Organisation und Kapital

Bevoelkerung: Indien hat mittlerweile 1 Milliarde Einwohner und die Bevoelkerung waechst weiter. Das Durchschnittsalter der Bevoelkerung betraegt 24 (also Clara, auch du gehoerst naechstes Jahr zum altes Eisen!) Das hoert sich erfreulich an, gerade angesichts unserer demographischen Sorgen (schliesslich gibt es jede Menge junge Arbeitskraefte, die z.B. Mittelstaendlern hier eine Rente mit 55 ermoeglichen), bringt aber schwerwiegende Probleme mit sich. Mehr Menschen muessen erst einmal ernaehrt werden. Indien befindet sich gewissermassen in der malthusianischen Falle. Der umstrittene Bevoelkerungsforscher Malthus postulierte Anfang des 19. Jahrhunderts grob gesagt, dass die Menschheit zum ewigen Elend verdammt sei. Wenn genuegend Nahrungsmittel vorhanden sind, bekommen die Leute mehr Kinder, bis es wegen der wachsenden Bevoelkerung zu Nahrungsmittelknappheit kommt. Dann sterben "ein paar" durch Kriege, Epidemien oder Hungersnoete und der Kreislauf beginnt von vorn. Indien als sehr fruchtbares Land wird so wie viele Entwicklungslaender quasi Opfer seiner eigenen Erfolge bei Nahrungsmittelproduktion, Erschliessung des Landes und medizinischer Versorgung. Der Kuchen wird groesser, aber die einzelnen Stuecke kaum. Ein Ausbruch aus dem malthusianischen Teufelskreis ist schwierig, aber moeglich und der westlichen Welt ja auch Ende des 19. Jahrhunderts geglueckt. Doch dazu spaeter noch.

Eine Milliarde sich weiter munter vermehrende Inder verbrauchen ausserdem mehr Ressourcen als nachwachsen. Da es haeufig aufs nackte Ueberleben ankommt, wird auf so etwas wie Nachhaltigkeit (damit tun ja selbst wir wohlhabende Europaeer uns ungeheuer schwer) ueberhaupt keinen Wert gelegt. Die Trinkwasserquantitaet und -qualitaet nimmt stetig ab, Waelder werden abgeholzt, was zu Erosion, Bodenverschlechterung und erhoehtem Duerrerisiko fuehrt, Abgasreinigung ist ein Fremdwort, Muell wird zum grossen Teil einfach auf die Strasse geworfen usw. (selbst, wenn man als sensibilierter Europaeer letzteres nicht tut, bleibt doch fraglich, wie das Hotel mit den 2 leeren Trinkwasserplasteflaschen pro Tag verfaehrt...) Auch wenn das heute bequem oder mitunter ueberlebensnotwendig erscheint, werden dadurch Lebensraeume und Ressourcen zerstoert oder, oekonomisch gesprochen, es wird eine implizite oekologische Schuld aufgebaut, deren Zinsen die naechste Generation zahlt und welche die kuenftige Entwicklung des Landes verteuert.

Bildung: Dass Bildung eine entscheidende Rolle in der Wohlstandsentwicklung spielt, steht ausser Frage (ausfuehrlichere theoretische und empirische Ausfuehrungen dazu sehr gern auf Anfrage :-) ). Weniger offensichtlich ist vielleicht, dass Bildung auch zu einer niedrigeren Kinderzahl beitraegt, erstens weil der Wert von Bildung den Wert von Kindern erhoeht (lieber zwei gebildete Kinder als zehn dumme - jaja, ich hoere schon die Stimmen "aber Kinder bekommt man doch nicht aus oekonomischen Gruenden" - was kann ich dafuer, dass diese Theorie gesamtgesellschaftlich dennoch ganz gut stimmt?) und zweitens gebildete und emanzipierte Frauen weniger Kinder bekommen. Hier zeigt sich, dass die vier Punkte (und sicher noch einige mehr) alle irgendwie zusammenhaengen, was dramatische Pfadabhaengigkeiten und selbstverstarkende Effekte bedingt, die zu den enormen weltweiten Wohlfahrtsunterschieden beitragen.

Indien wird zwar gern als aufstrebendes Technologieland mit haufenweise Top-Informatikern etc. dargestellt. Im Vergleich mit anderen Entwicklungslaender mag das stimmen, absolut gesehen aber ist das vernachlaessigbar. In der IT-Branche arbeiten ingesamt weniger als 1 Million Menschen, inkl. Annexen wie Call Centern etc. Es gibt immernoch mindestens 35% Analphabeten, nur 6% der Kinder absolvieren die 12.Klasse. Die bedrueckend hohe Anzahl an (kostenpflichtigen) Privatschulen, die mir hier ueber den Weg gelaufen sind (oder eher ich ihnen ...) laesst zudem vermuten, dass es um die Qualitaet der staatlichen Schulen nicht zum besten steht. Im Alltag hier sind mir die im Schnitt schlechten Rechenfaehigkeiten und relativ schlechten Englisch-Kenntnisse der Bevoelkerung aufgefallen. Schlechtes Englisch in Relation dazu, dass es einzige Geschaeftssprache und "dank" der Kolonialzeit die Lingua franca Indiens ist bzw. sein sollte. Viele Formulare und Anzeigen, von den Erzeugnissen der modernen Konsumgesellschaft ganz zu schweigen, gibt es nur auf englisch.

Das insgesamt niedrige Bildungsniveau fuehrt zwangslaeufig dazu, dass viele Inder nur einfachen und vergleichsweise unproduktiven Taetigkeiten nachgehen koennen. Hier faellt auf, wie oft Leute einfach nur augenfaellig rumsitzen und nichtstun (Querverweis zu Punkt 3: Organisation!). D.h. sie tun schon etwas, aber in einer Intensitaet und Qualitaet, die uns eine schnelllebig-stressige Arbeitswelt Gewoehnten mitunter wie Nichtstun vorkommt. So haben etwas westlicher angehauchte und teurere Laeden fast immer "Sicherheitspersonal", deren einzige wirkliche Aufgabe das Türöffnen ist. Am Bahnhof sitzen neben dem auch schon unterbeschaeftigten Assistant Station Supervisor noch vier unterbeschaeftigtere Sub-Supervisors. Rikscha-Fahrer verbringen mangels ausreichender Kundschaft oder Ehrgeizes schaetzungsweise drei Viertel ihres Tages mit Doesen und Schwatzen. In den meisten Tante-Emma-Laeden, die es hier zu abertausenden gibt, finden sich drei bis vier Leute (Familienangehoerige, Angestellte...), obgleich offensichtlich gerade mal eine Arbeitskraft (wenn ueberhaupt) durchgehend beschaeftigt ist. Diese Leute arbeiten dann auch 12h am Tag, 6 Tage die Woche. Nur muss man sich ueber die gesamtgesellschaftliche Produktivitaet nicht wundern.

Nun liegt der zivilisationskritische Einwand nahe, dass Produktivitaet nicht alles ist und unsere Gesellschaft an zu viel Produkitivitaet leidet, einhergehend mit sozialer Kaelte, Stress und Burnout-Syndromen. Tatseachlich ist dieser Hang des kapitalistischen Systems, im Namen immer billigerer, neuerer und vielseitigerer Produkte, deren Nutzen fraglich scheint und auf die doch keiner verzichten will, immer mehr vom Menschen zu fordern, und das ganze noch auf eine dezentral-anonyme Weise (nix da mit Weltverschwoerung des Kapitals bitte, liebe aeltere Generation), so dass man niemanden wirklich zur Verantwortung ziehen kann, eines der groessten philosophischen Probleme der liberalen Welt. Aber erstens fuehrt das hier zu weit und zweitens gestatte ich mir, derartige Einwaende (dass Produktivitaet nicht alles ist), in einem Land, in dem die Haelfte der Bevoelkerung unter der Armutsgrenze lebt, als etwas makaber abzukanzeln. Aus dem selben Grund halte ich auch sozialromantische Einwuerfe der Art "ist doch schoen mit den vielen kleinen Laeden oder dass man persoenlich bedient und angesprochen wird statt alles in SB und ueber Automaten zu erledigen" fuer ziemlich unpassend.

(Exkurs, der problemlos uebersprungen werden kann: Wie ueberhaupt Volkswirte es unverstaendlich finden, wenn man ihnen vorwirft, sie seien nur vom Geld und Eigennutz getrieben oder saehen zumindest die Welt nur aus diesem Blickwinkel. Oekonomen beschaeftigen sich mit der empirischen Analyse der Welt, wie sie ist, und nicht, wie wir sie gerne haetten. Sie laesst sich an ihrem empirischen Erfolg messen, nicht an ihrer normativen Erwuenschtheit. Deshalb finden wir obige Kritik ebenso anmassend wie die Behauptung, wir lebten in einer Gesellschaft mit unnoetig vielen Guetern, weniger waere mehr etc. Wer kann fuer sich in Anspruch nehmen, das entscheiden zu koennen? Welche andere humane Moeglichkeit der Entscheidung haben wir, als die, zugegebenermassen recht unvollkommene, demokratische, die sich im Massenkonsum manifestiert?)

Zurueck zum Thema: Viele Inder beschaeftigen sich mit qualitativ und quantitativ unproduktiven Taetigkeiten, zum einen vielleicht, weil sie eine Praeferenz fuer ein etwas ruhigeres und stressfreieres Leben haben moegen (obgleich sich solche Argumente meist nur sehr schwer belegen lassen) und zum anderen sicherlich, weil ihr Bildungsniveau nicht mehr zulaesst. Im Ergbnis geht der Ladenbesitzer eben mit 2 bis 3 Euro Tagesverdienst nach Hause und ernaehrt davon seine Familie. Man kann es so oder so sehen: Bei uns gibt es nicht deswegen nur noch so wenige Tante-Emma-Läden und Bauern mit eigenem Hof, weil sie kein Ueberleben ermoeglichten (zumindest für die Bauern muss das schon deshalb Bloedsinn sein, weil ein Feld viel mehr Ertrag bringt als vor 200 Jahren und da gings auch irgendwie), sondern weil ihre Besitzer ganz kuehl-oekonomisch lukrativere Beschaeftigungsmoeglichkeiten vorziehen (die es in Indien nicht gibt). Die Volkswirte sagen dazu auch, dass die Opportunitaetskosten  unproduktiver (relativ gesehen) oder gewissermassen sozialromantischer Taetigkeiten zu hoch sind. In Indien sind sie das nicht.

Organisation: Ebenfalls eine Rolle fuer die Produktivitaet spielt, dass vieles im Alltag einfach erschreckend schlecht organisiert ist. Das haengt sicherlich mit dem Bildungsniveau (nicht wissen, dass es auch anders geht), den fuer Infrastruktur etc. zur Verfuegung stehenden Mitteln (siehe Kapital) sowie mit Mentalitaet und Wertesystem zusammen. Letztere lassen sich als Ursachen oder Wirkunsgfaktoren schwer isolieren, zumal sie sich definitiv aendern, wenn sich die gesellschaftlichen oder oekonomischen Voraussetzungen aendern. Zum Beispiel werden Ehen weltweit zunehmend dann aus Liebe und nicht aus Kalkuel geschlossen (und auch oefter geschieden!), wenn ein Land wohlhabender wird, weil dies die materielle Daseinsvorsorge kollektiviert und die Familie zu einer gefuehlsbasierten statt oekonomisch basierten Einheit wird. So viel zum Thema inhumaner Kapitalismus :-)

Hier kann man jedenfalls beobachten, dass viele Inder, sei es wegen ihrer Bildung oder ihrer Mentalitaet oder einer Kombination daraus, viel weniger ueber ihren eigenen Tellerrand schauen. Mit (gerade mir...) faellt enorm auf, dass die Frage "Warum" quasi nicht existiert. Wie oft wurde ich unglaeubig angestarrt, wenn ich wissen wollte, warum bitte etwas passiert, z.B. ein Bus nicht kommt oder was auch immer. Fast nichts wird hinterfragt, alles so hingenommen wie es ist. Das mag das Leben haeufig leichter ertraeglich machen, verhindert aber auch Verbesserungen von unten, von denen eine Gesellschaft lebt. Die Angestellten im Touristeninformationszentrum wissen nicht, wann wohin Busse fahren und wollen das auch gar nicht wissen (fragt sich, was sonst?), mit der legendaer aberwitzigen Buerokratie musste ich zum Glueck nur wenige Erfahrungen sammeln. Die Leute nehmen auf der Strasse keine Ruecksicht aufeinander und stroemen augenblicklich in die geradezum Halt gekommene S-Bahn, auch wenn viele andere aussteigen wollen usw. Beides erhoeht die Gesamtzeit auf Strasse und Schiene unnoetig.

Solche Erfahrungen fuehren zu der - angesichts beklagter zunehmender Anonymitaet und Ruecksichtlosigkeit in der Gesellschaft eher kontraintuitiven - Feststellung, dass wir in der westlichen Welt ein ganz beachtliches Sozialverhalten haben. In vielen Situationen, in denen wir uns durch ignorantes Verhalten besser stellen koennten, beachten wir soziale bzw. moralische Konventionen und ermoeglicht so der Gesamtheit ein besseres Vorankommen (das untersucht die sogenannte Spieltheorie oder die Geschichte der Evolution der Kooperation - auch hierzu gern auf Anfrage mehr...). Nun sind die Inder gewiss keine unsozialen unmoralischen Ungeheuer, nur haben sie einige wirtschaftlich vorteilhafte soziale Verhaltensweisen nicht oder noch nicht ausgebildet. Dafuer hat die Familie und das Miteinanderauskommen eine viel groessere Bedeutung - was aber eben auch Vetternwirtschaft und Bestechung beguenstigt.

In vielem koennten es sich die Inder einfach viel leichter machen, indem sie mal eine Minute nachdenken, warum sie Dinge wie tun und/oder wenn es eine Autoritaet gibt, die organisatorische Aenderungen durchsetzen kann. Noch zwei Beispiele dazu: Ich habe vor zwei Wochen fast mein Flugzeug verpasst, weil es auf der Strasse zum Flughafen scheinbar spontan zum Stau kam. Es bewegte sich quasi gar nichts mehr. Grund: eine Strassenseite war wegen Bauarbeiten auf 200m Laenge gesperrt und niemand hatte sich die Muehe gemacht, den Verkehr aus der einen und dann der anderen Richtung durch die Engstelle zu lotsen (von Ampeln will ja gar keiner reden). Also versuchten sich Busse und LKWs auf einer Spur aneinander vorbeizuzwaengen - mit wenig verwunderlichen Konsequenzen fuer den Verkehrsfluss. Ich erreichte den Flughafen uebigens durch aeusserst unsoziales Verhalten, naemlich den Umstieg auf ein Motorrad-Taxi, das sich durch den Stau mogelte - als Sozius mit zwei Rucksaecken mit 70 ueber die Landstrasse - war toll!

Zweitens sind in Indien wie in vielen Entwicklungslaendern Stromausfaelle auf der Tagesordnung. Jedes vernuenftige Hotel, teilweise sogar kleine Souvenirgeschaefte, haben ihr eigenes Notstromaggegat. Nun bin ich kein Elektroenergie-Experte (es sei auf meine Ex-Mitbewohner verwiesen), aber ich bin ziemlich sicher, dass dies gesamtgesellschaftlich wesentlich teurer kommt als eine leistungsfaehigere zentrale Stromversorgung sicherzustellen.

Kapital: Organisatorische Maengel lassen sich haeufig auch mit dem schieren Mangel an Ressourcen erklaeren. Eine leistungsfaehige Stromversorgung muss ebenso wie Ampeln oder gute Schulen erst einmal finanziert werden. Zum einen koennen die Menschen hart arbeiten, um auf einen gruenen Zweig zu kommen, zum anderen koennen sie von einem im Laufe der Jahre aufgebauten Kapitalstock profitieren. Dieser erhoeht z.B. ueber hoehere Zahl an Maschinen und Automatisierung die Produktivitaet der Arbeit. Wem die Rendite des Kapitals direkt zufliesst, ist erst einmal zweitrangig (ein politisches Verteilungs-, kein oekonomisches Allokationsproblem, wie Volkswirte, sich etwas ungezogen aus der Affaere ziehend, gern zu sagen pflegen). Fest steht, dass die ganze Gesellschaft von einem hohen Kapitalstock profitiert, weil dessen Ertraege Investitionen ermoeglichen, Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Segnungen des Sozialstaats. Indien ist nun bei weitem nicht mit der Menge an Kapital ausgestattet wie die westliche Welt. Kapitalbildung ist ein sich segensreich oder unheilvoll, wie man es sehen moechte, selbstverstaerkender Prozes - wie man beim Blick auf die westliche Welt einerseits und auf die ungleiche Reichtumsanhaeufung innerhalb derselben andererseits unschwer erkennt. Nicht alles laesst sich aber auf den boesen Westen und dessen bessere Ausgangsbedingungen oder anhaltende Ausbeutertaetigkeit schieben. Manche Gruende sind hausgemacht. So gehen mangelnde Eigentumsrechte (es gibt keinen Grundbucheintrag fuer die Slum-Huette) mit Kapitalknappheit einher (der Huettenbesitzer erhaelt keinen Kredit fuer seinen kleinen Laden, weil er ein Haus ohne Rechtsstatus nicht mit einer Hypothek belasten kann).

Auch wenn diese Erguesse sicher nicht vollstaendig und schon gar nicht wissenschaftlich sind, zeigen sie doch hoffentlich, dass die Wohlstandsunterschiede auf dieser Welt kein Mysterium darstellen. Viel schleierhafter ist mir, wie wir langfristig mit diesen Unterschieden umgehen koennen und wollen. Denn 6 Milliarden oder mehr Menschen, die auf dem Wohlstandsniveau und mit dem Resourcenverbrauch leben, wie wir das tun, wird unser Planet ganz sicher nicht aushalten.

Mittwoch, 11. April 2007

Bildergalerie IV

1 Eine wirklich notwendige Warnung, aber leider an nicht gerade gut sichtbarer Stelle angebracht

2 der Bahai-Tempel in Form einer Lotosbluete in Delhi

3+4 Der Goldene Tempel der Sikhs in Amritsar

5 bei Dalhousie, im Hintergrund das Hotel :-)

6+7 in den Bergen (ach so...)





Dienstag, 10. April 2007

Little Tibet

Es sieht so aus, als verkuerzte sich die Frequenz meiner Eintraege mit dem nahenden Ende der Reise. Vielleicht haengt das aber auch mit der Verfuegbarkeit von Internet-Cafes (sprachlich doch witzig, dass die noch so heissen, obwohl die wenigsten Getraenke servieren und die Originale die vielleicht ersten Opfer des Internet-Booms waren) und der dadurch von einem Ort indirekt nahegelegten Beschaeftigungsangebote zusammen. In diesem Falle waere meine Schreibwut hier nur adaequat...

Eine eigentlich unbeschreibliche, wenn aber doch, dann am ehesten halsbrecherisch zu nennende Busfahrt brachte mich gestern ins naechste Tal: 40km Luftlinie und 160km Wegstrecke entfernt. Der anscheinend lebensmuede Fahrer begeisterte u.a. mit Ueberholmanoevern von PKWs auf schmaler Holperstrecke bei gefuehlten 2cm Abstand zur 100m tiefen Schlucht (Leitplanken sind doch was fuer Bergaufbremser!). Gluecklicherweise habe ich einen grossen Teil der Strecke vor mich hin gedeost oder geschlafen. Dass der Busfahrer bei laengeren Stops im Halbstundentakt mit unidentifizierbaren Werkzeug unter den Bus krabbelte und unsichtbar kopfschuettelnd wieder hervorkam, erhoehte das Vertrauen auf ein sicheres Ankommen nicht gerade, aber wie so haeufig, sind wir Zivilisationsverweohnte einfach zu empfindlich. Selbstverstaendlich bin ich heil in McLeod Ganj angekommen, einem Bergort, der aber ausser der geographischen Lage mit Dalhousie rein gar nichts gemein hat.

McLeodGanj war ein verschlafenes Nest, bis 1960 dem Dalai Lama auf der Flucht vor den chinesischen Besatzern (nach Ueberquerung des Himalaya zu Fuss!) hier Asyl gewaehrt wurde. Es folgte eine stetiger Fluss tibetischer Fluechtlinge und ein paar Jahe spaeter ein noch stetigerer Touristenstrom. So scheint der Ort nach meinem ersten Eindruck ausschliesslich aus Hotels, Restaurants, Reisebueros, Souvenirgeschaeften, Shops mit Mars-Riegeln und Nivea-Cremes, Yoga-Schulen, Videohallen (!!) und Internet-Cafes zu bestehen. Die vermeintliche verschlafenen Bergdoerfer, die ich dem ganzen Tumult entfliehend auf meiner heutigen Wanderung in die Umgebung zu erkunden trachtete, entpuppten sich als verwechselbare Kopien des Hauptortes im Kleinformat. Nicht dass ich dies alles verdammte, schliesslich nutze ich diese Infrastruktur auch gebuehrend (siehe Anfang), aber in dieser puren Touri-Hochburg-Form habe ich das bisher in Indien nicht erlebt und war gerade nach den Tagen in Amritsar und Dalhousie spontan etwas abgestossen. Was das ganze am Ende aber doch ertraeglich und besonders macht, ist neben der malerischen Umgebung das Tibet-Flair: buddhistische Tempel (die Weltreligion fehlte mir noch auf der Reise!), kahlrasierte Moenche in ihren gelben und roten Gewaendern sowie eine sehr freundliche, unaufdringliche Atmosphaere - ganz so wie es der eigenen romantisch-rudimentaeren Tibet-Vorstellung entspricht.

Die Unmengen Westler, die sich hierher einfinden, kann man in drei Gruppen einordnen. Die Durchgeknallten, die Weltverbesserer und die Gaffer. Oder etwas weniger im BILD-Stil formuliert: erstens meist an ihrer gewollt oestlichen Kleidung oder ihrem Habitus zu Erkennende Langzeit-Urlauber oder Aussteiger, die sich hier im Gefolge des geistigen Oberhauptes der Tibeter im Meditieren oder Yoga lernen ueben; zweitens junge politische oder soziale Idealisten, die tibetischen Fluechtlingen helfen oder auf welche Art auch immer die Unabhaengigkeitsbewegung unterstuetzen; und drittens Menschen aller Altersgruppen und Nationalitaeten, die nicht so richtig wissen, was sie hier sollen, aber die ganze Tibet-Action (Zitat Lonely Planet) mal aus der Naehe gesehen haben wollen. Zu letzteren darf ich mich wohl zaehlen, habe den Abstecher auch nicht bereut und werde mich doch morgen Abend, ohne zu bedauern, hier keinen Langzeitaufenthalt eingeplant zu haben, auf den Rueckweg nach Delhi begeben.